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Pauline Rénevier

SCHAUSPIELERIN

Text: Simone Rickert | Fotos: Foto: Sasha Ilushina; Krafft-Angerer Fotografie; Peter Müller

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 63

WoohOO! Mit einem inszenierten Freudenschrei aus vollem Herzen trat Pauline auf die Bühne anlässlich der Verleihung des Boy-Gobert-Preises – an sie. Die Tradition will es, dass die Träger des seit 1981 von der Körber-Stiftung vergebenen Nachwuchspreises die Matinee um Laudationen und Dankesreden herum wie ein Stück ihres Lebens gestalten: herausfordernd. Die Liste der Vorpreisträger liest sich höchst prominent: anspruchsvoll. Pauline wird im Verlauf des Vormittags noch den Mond ins Thalia Theater holen (im übertragenen Sinne) und einen Weltrekord brechen (wirklich), doch dazu später. Jedenfalls tritt sie nicht im Festkleid auf, sondern im Blaumann: vielversprechend.

Sie ist seit zweieinhalb Jahren festes Mitglied im Ensemble des Thalia. Geboren in Rio de Janeiro, doch ihre Eltern kehrten bald in die Heimat zurück. Hamburger Deern, die nach ihrem Abiball erst mal ein Fischbrötchen am Hafen brauchte, das dann allerdings im Abendkleid. Den französischen Nachnamen hat sie von ihrem Großvater väterlicherseits, den anmutigen Vornamen dazu spricht sie deutsch aus: Pauline, nicht „Pólin“. Dass sie Französisch nicht gut spricht, nur versteht, ist ihr etwas peinlich. Doch an ihrem altsprachlichen Hamburger Gymnasium gab es Französisch-Unterricht nur als AG. Pauline holt das Defizit gerade nach, bei Abendessen mit der Mutter ihres halbfranzösischen Freundes. Dafür aber könnte sie Sophokles, mit ein bisschen proben, locker im Original vortragen.

Ihre erste Rolle spielte sie mit neun Jahren in dem Kurzfilm „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, gedreht in den Krameramtsstuben, für sie wahnsinnig aufregend und prägend. Sie kam dazu, wie es sich im Laufe ihrer Karriere fortsetzen wird: Sie sagt, „durch Zufall“; doch eigentlich ist es ihr Einsatz. An einer nachmittäglichen privaten Kunstschule mit Singen, Tanzen, Malen – wobei ihr das Spielen von Panthern und anderen wilden Tieren damals schon das Liebste war – fiel sie auf und wurde gecastet. Bei der Kinopremiere im Zeise saß ihre beste Freundin rechts neben ihr und weinte bitterlich, denn Paulines Figur stirbt am Ende des Märchens an Hunger und Kälte. Als ihre Großmutter links dann auch noch anfing, meinte das Kind: „Hey, aber ich bin doch hier. Ist doch nur ein Film!“

Die Differenz zwischen Rolle und wahrem Leben hat sie von Anfang an gecheckt. Es folgten weitere Filme und TV-Serien, am Thalia spielte sie im Jugend-Club. Dass Schauspiel ihr Beruf werden würde, war aber noch lange nicht entschieden. Ein Studium der Psychologie oder Biologie konnte sie sich zu Abizeiten gut vorstellen, weiterhin ihre Interessen. Doch sie gab ihrer bis dato Nebenbeschäftigung ein Jahr Zeit für eine Vorsprech-Reise zu den Schulen quer durchs Land. Oft wurde sie abgelehnt, manchmal angenommen, unter anderem an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Sie ist da wahnsinnig fleißig, lernt Text akribisch und probt intensiv. Wird vom Fleck weg ans Thalia geholt, auch kein Zufall: Robert Wilson suchte für eine Rolle in seinem legendär werdenden Stück „H“, das Theater schlug die im Haus bekannte frischgebackene Absolventin vor, sie brillierte und wurde fest in das Ensemble übernommen, deren Mitglieder sie bisher als ihre Idole gefeiert hatte. Nun ihre Kollegen, sie wie immer als Jüngste im Kreise. Als Nachwuchspreis an Schauspielpersönlichkeiten für besondere Leistungen an den Sprechbühnen Hamburgs wird der Boy-Gobert vergeben, doch wie Senator Carsten Brosda vollkommen richtig in seiner Laudatio bemerkte, Pauline ist jung an Jahren, doch reich an Berufserfahrung.
In der Begründung der Jury bescheinigte Burghart Klaußner ihr „beeindruckende Präsenz, Anmut und Offensivität, … überschäumende Spielfreude in der Improvisationskunst“ und, oha, „eine Dringlichkeit des inneren Ernstes“ – das klingt sehr reif. Was hat die fröhlich-emphatische Frau da gedacht? „Ich hab’ geweint, als ich die Jury-Begründung das erste Mal gelesen habe, ich fand sie sehr rührend. Fühlte mich wahnsinnig gesehen. Ich dachte, das ist ja der Hammer, wenn das rüberkommt!“

Sehr ernst nimmt sie ihre Arbeit, doch sich selbst als Menschen und als Schauspielerin nicht, oder besser: nicht so wichtig. Höchsten Respekt dagegen hat sie vor ihrem Publikum und dessen Zeit, die es ihr schenkt. Zeit ist ihr ein zentrales Thema. In der Inszenierung zur Preisverleihung reist sie in ihrer eigenen zurück, vorbei an Kriegen, Bankenkrisen, ihrem Abiball, am Ozonloch, Tänzen im Kindergarten und landet zwischendurch auf dem Mond, einer überdimensionalen Diskokugel, geborgt aus dem Bühnenbild von „König Lear“. Eines ihrer liebsten Stücke, sie spielt gleich zwei Rollen, die loyalen, guten: Königstochter Cordelia und den verbannten Edgar in Hosenrolle, durchdacht und verstanden bis zum Exzess mit Farbe und Tiergehabe auf der Bühne.

Nebenrollen, doch da ist es wieder, ihr Zeit-Thema. Sehr treffend, wie sie findet, wurde es ihr als „Zeitgeiz“ attestiert. „Ich könnte es ganz schwer ertragen, auf die Bühne zu gehen, wenn ich das Gefühl habe, ich verschwende die Zeit des Publikums. Wenn ich nicht weiß, was ich da tue, dann soll es jemand anderes machen. Ich schäme mich selten. Ich kann viele bekloppte Dinge machen, für die ich mich überhaupt nicht schäme.“ Billard spielen zum Beispiel, ein neues Hobby, und dabei haushoch verlieren, einfach weil sie es mal überhaupt nicht kann und ganz ohne Ehrgeiz mit Freunden abhängt. Aber sie würde sich total schämen, dem zahlenden Publikum keine Vorstellung mit Mehrwert zu bieten. Auf der Bühne zu stehen, empfindet sie als Privileg und große Verantwortung. Vielleicht habe Klaußner das mit „innerem Ernst“ gemeint.
Intendant Joachim Lux bezeichnet den Boy-Gobert als „Ermöglichungspreis“, denn über das Prestige hinaus ist er dotiert mit ansehnlichen 10.000 Euro, eine Investition in die künstlerische Zukunft.

Für Pauline ist es ein „Ermutigungspreis“, Ansporn, sich auf Terrain vorzuwagen, das sie bei der Inszenierung der Matinee im Duett mit Alexander Klessinger erstmals selbst erkunden konnte: Sie hat vor, Regie zu führen, und bereits ein Drehbuch für einen Kurzfilm geschrieben. An einem windigen Haus am Kliff über dem Meer soll das Set sein, ihr Freund wird die Hauptfigur verkörpern. Es wird um Verantwortung gehen, für das Liebste, was sie hat, Familie, Generationenbande, die Welt. Kein kleines Vorhaben, und sie schaudert etwas ob der Courage, die ihr da jüngst eingehaucht wurde. Doch sie traut sich. Ach so, und der Weltrekord? Den brach sie: im schnellsten Crowdsurf über 20 Meter von der Bühne durchs Parkett und zurück in unter 45 Sekunden. Das überraschte Publikum formierte sich augenblicklich zu einer Welle
und trug sie auf Händen.

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