Wenn man Rainer Moritz im Hause sucht, braucht man nur dem lauten Lachen nachzugehen. Die Treppe rauf in den vierten Stock, vorbei an den Porträts prominenter Autoren, die hier schon zu Gast waren, oben am Treppenabsatz steht der Literaturhausleiter mit ein paar Mitarbeitern, die Morgenbesprechung war offenbar heiter. Reicht Kaffee, bittet in sein Büro, das mit Büchern voll ist bis unter die Decke: in Regalen, gestapelt auf Tischen, Sesseln, am Boden. Und natürlich ist eine dem Außenstehenden verborgene Ordnung darin. Bevor er hier einzog, war er 15 Jahre in Verlagen tätig, zuletzt als Verlagsleiter bei Hoffmann und Campe am anderen Alsterufer. „Da musste ich allerdings vom Schreibtisch aufstehen, um das Wasser zu sehen“, begründet er seinen Seitenwechsel. Da ist es wieder, das tiefe badische Lachen.
In Heilbronn aufgewachsen, in Tübingen Germanistik studiert, dann Station im launigen Leipzig, 1998 ist er bei uns gelandet. Und hat Hamburg, das würde er mit seiner Bescheidenheit selbst nie so sagen, auf die Landkarte des deutschen Literaturbetriebs gebracht. Der Senat verlieh ihm dankbar den Ehrentitel „Professor“. Das Literaturhaus brummt von seiner Geschäftigkeit, fast jeden Abend ist hier eine Veranstaltung: Autoren aus aller Welt kommen zur klassischen Lesung, es gibt Buchclubs, philosophische Debatten, Schüler schreiben Romane. Das Literaturhaus als lebendiges Zentrum, für jeden Geschmack soll möglichst etwas dabei sein.
Der Mann redet schnell und denkt noch schneller, sodass er oft seine eigenen Sätze nicht ganz beendet. Deshalb traut man ihm auch ohne Zweifel sein enormes Lesepensum zu. Nicht jedes Buch wird bis zum Ende gelesen. Wenn ein Autor nach 30 Seiten nicht überzeugt … „Aber wenn ich eine Kritik schreibe, dann wäre es dem Romanautor gegenüber eine Frechheit, wenn ich ein Buch beurteile, womöglich sogar schlecht beurteile, und hab’s nicht ganz gelesen.“ Die „Last des Lesens“ nimmt er gern auf sich. Er ist ja nicht nur Gastgeber im Literaturhaus, sondern wird auch von Rundfunk und Tageszeitungen oft um Buchkritiken gebeten, was wiederum die Prominenz des Literaturhauses stärkt.
Von Vorteil ist sicherlich, dass er notorischer Frühaufsteher ist, und er fährt viel Zug – zu Veranstaltungen, Recherchen für eigene Bücher. „Meine Aktivitäten und Freizeit kann ich gar nicht voneinander trennen“ – glücklicher Mann, der das von sich sagen kann. Als Student hat er in einer Korkenfabrik gearbeitet. Er weiß, wie Arbeit ist, zu der man sich jeden Morgen zwingen muss, um Geld zu verdienen: „Das werde ich nie vergessen, mein Glück ist mir zwei-, dreimal am Tag bewusst.“
Ein klares Urteil, das ist seine Stärke. Die haben nicht alle Rezensenten. Vielleicht liegt sie in seiner Persönlichkeit begründet, vielleicht ist es eine Kompetenz, die sich aus einem seiner überraschenden Interessensgebiete herausgebildet hat. In jungen Jahren war er Fußball-Schiedsrichter! Die Atmosphäre in den Vereinsheimen atmet er heute wieder, wenn er seinen Sohn zu den Spielen der D-Jugend Uhlenhorst -Adler begleitet. Der Geruch nach abgestandenem Bier, Wimpel auf Resopaltischen – seine Frau findet das alles sehr merkwürdig und ist dankbar, dass er diese Sonntagmorgens-Termine übernimmt. Und es gibt noch eine weitere Leidenschaft, die man so nicht erwartet hätte: deutscher Schlager.
Es ist also durchaus kein Elfenbeinturm, in dem er hier am Schwanenwik sitzt. Außerdem ist er als kaufmännischer Geschäftsführer auch für die Finanzen zuständig. Wie in allen Kultureinrichtungen „ein zähes Ringen“. Gerade wird umfangreich renoviert, da muss Moritz halt auch den neuen Boden für die Patisserie aussuchen. Ab dem 28. August wird wieder geöffnet. Gegen Ende unseres Gesprächs lässt er sich tatsächlich auf die so schwierige Frage ein: Warum sollte man überhaupt einen Roman lesen? 400 Seiten über Leute, die es gar nicht gibt? Das betrachten einige als Zeitverschwendung. Da lacht der Mann wieder, auch dieser Frage hat er ein Buch gewidmet: die Überlebensbibliothek – für jede Lebenssituation ein Buchtipp. Gute Literatur kann vermitteln, meint er, eine Romanfigur führt einem Situationen vor, in denen man selbst vielleicht ähnlich oder ganz anders handeln würde. Sie sei eine Art Wahrnehmungsschulung:
„Literatur wirkt hintergründig, unterschwellig und ändert unsere Sichtweise der Welt.“
Sein neuestes eigenes Werk ist eine Hommage an die Buchhandlung Felix Jud in der Mellin-Passage. Unglaubliche Anekdoten aus 95 Jahren, für die meisten sorgte der Gründer noch persönlich. Der Titel verrät: „Die Fütterung der Schlangen geschah vor Ladenöffnung“.
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 40