Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 44
Wenn die Geschichte ein bisschen anders verlaufen wäre, hätte dann Buzz Aldrin auf dem Mond eine Kessels statt einer Omega Speedmaster tragen können? Steve McQueen im Film „Le Mans“ eine Knoblich statt einer TAG Heuer Monaco? Und würde der Dalai Lama bei Inter- views vielleicht heute eine Krille oder eine Kittel statt einer Rolex Oyster Perpetual Day Date an seinem Puls zeigen? Also Luxusuhren aus berühmten Hamburger Manufakturen statt aus Schweizer Kleinfabriken? Vollkommen abwegig? Nicht, wenn man Andreas Hentschel fragt, den Meister einer kleinen Eppendorfer Uhrenmarke mit Weltniveau. Denn es gab eine Zeit, als Chronometer aus Hamburg und Altona einfach besser waren als die der Konkurrenz. Das bestätigte Alexander von Humboldt, der bei seiner Expedition nach Asien 1829 einen Zeitmesser aus der Werkstatt von Abraham Louis Breguet, dem immerhin bedeutendsten Uhrenmacher aller Zeiten, dabeihatte und einen von dessen Meisterschüler Heinrich Johann Kessels. Die Breguet blieb mehrmals stehen, die Kessels nicht. Und dieser geniale Spross einer holländischen Künstlerfamilie begründete im dänischen Altona und benachbarten Hamburg eine große Tradition des Uhrenhandwerks, hatte Nachfolger wie Moritz Krille, Theodor Knoblich, Adolph Kittel und viele andere Mechanik-Genies auch ohne K-Initial, deren Chronometer man heute in den technischen Museen von Canberra bis Glashütte betrachten kann. Eine Zeitlang auch mal bei Andreas Hentschel. Denn dieser Lordsiegelbewahrer des echten Feinhandwerks, der in der Geschwister-Scholl- Straße seit über 30 Jahren in Uhrwerke vertieft ist, versteht seine Arbeit in der Tradition von Kessels, Krille, Knoblich und Kittel und hat deren Werke gesammelt und ein paar Jahre auch in einem Privatmuseum neben seinem Laden ausgestellt.
Tatsächlich gewinnt Andreas Hentschel seine Design-Philosophie aus dem damals begründeten Zusammenhang von Zeitmessung und Navigation, Präzision und Seefahrt – und pflegt seine eigene Kollektion in Bezug auf die lokale Ge- schichte der Seeuhr als Führer durch die Welt. Seit der Londoner Tischler John Harrison im 18. Jahrhundert bewiesen hatte, dass man für die Bestimmung des Längengrads auf See nur die genaue Uhrzeit benötigt, und dafür seine Kaliber H1 bis H5 konstruierte, verlangten Seemächte nach verlässlichen Borduhren. Und als Hamburg sich im 19. Jahrhundert vom Einfluss Englands löste, wurde das winzige Zahnrad langsam zur patriotischen Drehscheibe. Bis zwei Weltkriege der Haute Horlogerie an der Alster den Garaus machten und verhinderten, dass Hamburg das neue Genf der Armbanduhren werden konnte, galt der „Deutsche Chronometer“ in der Seefahrt als die Navigations-Rolex. Auch die von Andreas Hentschel für seine Armbanduhren selbst entwickelten Uhrwerke heißen H1 und H2, denn was dieser einnehmende blonde Hamburger mit der sanften Stimme in seiner Eckhausmanufaktur hinterm UKE aus 200 Teilen zusammenbaut, das braucht sich vor den Größten des Handwerks nicht zu verstecken.
Deren zweckdienlichem Funktionsverständnis folgend produziert Hentschel nur klassische Chronometer, „ohne Schnickschnack und Schickimicki“, also ohne Komplikationen wie Stoppuhr, Mondphase oder Datum – und natürlich ohne Brillis. Mit zehn Mitarbeitern komponiert Hentschel lieber in langwieriger und schöner Handarbeit hanseatisches Understatement mit lebenslanger Garantie. Ästhetisch orientiert sich der Selfmade-Mann, der nach der Ausbildung an der Uhrmacherschule Farmsen (einem Überbleibsel der glorreichen Zeit Hamburger Seeuhren) sein erstes Geld mit dem Restaurieren von Flohmarktfunden verdiente, an der klassischen Schlichtheit von Handaufziehern der 30er- bis 60er-Jahre – etwa den Chronometern von Omega, Patek Philippe oder Enicar, die er als junger Unternehmer in einem Souterrain an derselben Kreuzung, wo jetzt seine Manufaktur liegt, wieder flottgemacht hatte. Überhaupt basiert seine ganze Unternehmensidee von klassischen Luxusuhren fürs Leben auf der seriösen Epoche, als Menschen ihren Zeitschmuck mit maximal drei Zeigern noch beim Uhrmacher um die Ecke aussuchten, kauften und an ihre Kinder vererbten.
Die nach dem Goldenen Schnitt entworfenen Chronometer von „Hentschel Hamburg“, in der Zentralversion mit der Kleinen Sekunde über der Sechs, gibt es deshalb nicht beim Juwelier. Es gibt sie in der Werkstatt. Da muss man hingehen und sich einlassen. Auf ein langes freundliches und intensives Anbahnungsgespräch, in dem vorsichtig herausgefunden wird, welche Uhr wirklich die richtige für den Anlass, den Kunden, das Budget ist. Und dann kann man die Hentschel nicht gleich mitnehmen, denn es gibt sie noch gar nicht. Sie wird über mehrere Monate nach den Wünschen des Kunden von einem der Uhrmacher von A bis Z gebaut. Und gebaut heißt hier nicht wie bei Rolex, dass rund 300 Uhrmacher angeblich 700.000 Exemplare pro Jahr (also jeder zehn am Tag) herstellen. Die Enthusiasten in der opulent mit historischen Apparaturen und Präzisionsmaschinen eingerichteten Ladenwerkstatt, wo eine schwarze Pendelmechanik aus alter Zeit metallisch laut jede Sekunde ansagt, schneiden jedes Zahnrädchen, polieren jeden Zeiger so lange, bis der Autofokus des Mikroskops ihn nicht mehr scharf stellen kann, und prüfen die Ganggenauigkeit in einem sechs- wöchigen Verfahren, gegen das die berühmte Zertifizierung Schweizer Markenuhren, COSC, geradezu husch, husch erscheint.
So entstehen pro Jahr nur 200 Uhren. Aber in denen stecken 200 Jahre Sinn und Verstand. Und das führt dann auch an manches berühmte Handgelenk. Reinhold Messner trägt eine. Ein paar „Tatort“-Kommissare. Und die Queen besitzt auch eine H2. Von Hentschel, nicht von Harrison.