Alternatives Leben
Text: Simone Buchholz | Illustration: Ralf Nietmann
Mein Verhältnis zu Hamburg ist komplett unambivalent, ich liebe diese Hafenstadt aufrichtig und habe nur sehr selten etwas an ihr auszusetzen. Aber manchmal ist mir das alles, also das, was außerhalb von St. Pauli liegt, doch zu schön, zu reich, zu selbstherrlich.
Dann sage ich zu mir selbst und zu anderen, dass ich eigentlich gern im Ruhrgebiet wohnen würde, am liebsten in Dortmund (weil ich den Pott wirklich sehr mag), womit ich böse Blicke an Alster und Elbe ernte. Der Spaß ist es wert. Und wenn ich dann ernsthaft darüber nachdenke, wenn ich mich frage, ob Hamburg immer noch die Stadt meiner Wahl wäre, wenn ich nochmal 25 Jahre jünger und Berufsanfängerin wäre, also Schreibanfängerin, also Anfängerin in einer Arbeit, mit der man naturgemäß nicht zu den Topverdienerinnen gehört, dann muss ich mir eingestehen: nein, Hamburg wäre nicht mein Ding. Ganz einfach, weil ich mir hier auf keinen Fall eine Wohnung leisten könnte (ich könnte es mir auch jetzt nicht leisten, hier zu wohnen, wäre unser Mitvertrag nicht 20 Jahre alt). Wäre ich nochmal jung, müsste ich nochmal anfangen mit allem, im Jahr 2023, ich würde nicht nach Hamburg an der Elbe gehen, sondern nach Halle an der Saale. Warum? Bleiben Sie dran. Zuerst Dortmund.
Das Schicksal hat es nämlich gut mit mir gemeint und mich an nur einem Wochenende in die zwei Städte geschickt, die ich beide so mag. In Dortmund war ich in einer Buchhandlung. Es war eine dieser schönen, großen, lichten Buchhandlungen, sie lag gleich beim Phoenix See, mit klugen, liebevollen Buchhändler*innen und diesen typischen Ruhrpottmenschen im Publikum – den vielleicht freundlichsten Menschen Deutschlands, mit den freundlichsten Gesichtern, leicht zum Lachen zu bringen, und auch zum Weinen. Kurz: eine Bevölkerung, bereit zum Gefühl. Und ich hatte auch noch Besuch von einem Freund aus dem Rheinland, das muss man sich mal vorstellen.
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Bahnhof, begegnete mir ein Treppenladen. Also ein Laden, in dem man Treppen kaufen kann. Sowas hatte ich noch nie zuvor gesehen und ich war kurz davor, mir eine Wendeltreppe mitzunehmen. In der Ferne sah ich das Dortmunder U auf dem Dach der ehemaligen Unions-Brauerei, das die ganze Stadt überstrahlt. Wenn Sie mal im Sommer in Dortmund sind: Am Fuße des Hauses gibt es eine Kneipe, die früher eine Tankstelle war. Mit einem liebevolleren Blick auf sich selbst und die Welt kann man nicht Bier trinken.
Die Zugfahrt gen Osten dann verbrachte ich mit einem Buch über Raymond Chandler und die Liebe seines Lebens, und vielleicht muss man jetzt wissen, dass Raymond Chandlers Romane die literarische Liebe meines Lebens sind, um zu begreifen, in welcher Stimmung ich war: ich war auf. Ich fuhr von Dortmund nach Halle, ich las anrührende Dinge über meinen Lieblingsschriftsteller, vor dem Zugfenster sah ich Deutschland, diesen Mittelteil, der immer aussieht, als wären wir keine Nazis gewesen, als hätten wir nicht zwei Weltkriege angezettelt, als wäre das Land nicht geteilt gewesen, und als ich in Halle ausstieg war ich emotional weich gekocht: hallo, Osten.
Halle ist nicht nur die Stadt, in der meine Freundin Katrin, die Fuchsfrau, lebt, Halle ist ein beweglicher Organismus, irgendwie eine junge Stadt, zumindest was die Kulturszene angeht. Das Literaturhaus ist noch relativ jung, gerade erst etabliert, der Literaturhauschef ist ein Theatermann. Die Abende in dem knarzigen, alten Jugenstilhaus sind immer aufregend, alles ist im entstehen, das literarische Herz von Halle schlägt stark und schnell. Mir wurde sofort ein Glas Wein in die Hand gedrückt.
Ich probte mit der Literaturhaus-Band. Ich hatte Hunger. Ich trank mehr Wein. Ich las aus meinem Roman vor, ich hatte den Literaturhauschef neben mir. Ich verkackte den einen Song, den ich singen sollte, Gott sei Dank hatte ich auch da den Literaturhauschef neben mir. Und Gott sei Dank hat der Literaturhauschef ein Raucherbüro, in dem wir nach dem öffentlichen Teil noch den ganzen restlichen Wein tranken und uns gegenseitig Musikvideos vorspielten, bis spät in die Nacht und im Nebel.
Am nächsten Tag ging ich mit Katrin schwimmen, in einem Ostbad, das innen ganz aus grünen Fliesen und weißem Holz gemacht ist. Im Zug zurück nach Hause, zurück in den Norden, wurde ich krank. Ich hatte einfach zu viel alternatives Leben gelebt.