Hühnerherz
Text: Simone Buchholz | Illustration: Ralf Nietmann
Ich habe selbst schon nicht mehr geglaubt, dass ich es eines Tages doch noch nach Wien schaffen würde. Als junge Frau träumte ich ständig davon, bin dann stattdessen aber immer nach Paris gefahren, aus Versehen und vielleicht auch aus Sturheit. Als mein Paris-Stupor dann vorbei war, kam leider permanent irgendwas dazwischen, so zum Beispiel im Herbst 2019, als ich nach einem Festival in Tirol drei Tage in Wien verbringen sollte, in Innsbruck dann aber am letzten Morgen mit einer Art brennender Stahlverriegelung auf den Bronchien aufwachte. Ich nahm trotzdem tapfer bis trotzig den Zug nach Wien, lag da dann für glühende 72 Stunden einfach nur mit hohem Fieber in einem Bahnhofshotel, um mich danach mit weichen Knien und gehörig Ibuprofen im Gehirn zum Flughafen zu schleppen und weiterzufliegen nach Helsinki.
Aber in diesem Frühling war es endlich so weit. An einem fast nicht mehr kühlen Aprilnachmittag kam ich in Wien an und blieb drei Tage, ohne Fieber und ohne irgendeine Paris- oder Helsinki-Grätsche. Und die Stadt war kein bisschen so, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte – Wien war gar nicht morbide, schwül und altmodisch, niemand trug Pelze oder Reifröcke. Die Damen, mit denen ich mich traf, waren überaus lebendig, en vogue waren Leopardenmuster, pinkfarbener Lippenstift, verwegene Kurzhaarfrisuren und ordentlich Bling.
Schon am ersten Abend wurden frittierte Hühnerherzen aufgetischt (okay, bisschen morbide), dazu Bier (groß, vom Fass), Gemischter Satz (herrlich moderner Weißwein-Verschnitt), Apfelstrudel zum Dessert (heiß), dazu Marillenbrand (warm).
„Ganz ausgezeichnet“, sagte ich, „wie ihr diesen Kongress hier eröffnet.“
„Dann warte mal ab bis morgen“, sagten sie, „und übermorgen.“
Sie zogen alle gleichzeitig an den Zigaretten, der Schmuck an ihren perfekt manikürten Fingern glitzerte in der dunkelroten Glut. Jetzt würde ich natürlich gern ausführlich berichten, was morgen und übermorgen geschah, aber es war ein, nun ja, wie drücke ich das am besten aus – Kongress unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Eine eher geheime Zusammenkunft internationaler Feministinnen oder einfach: schöner Hexen. Es gab Filme und Kunst zu sehen und zu besprechen. Manche Dinge wurden so lange besprochen, bis sie sich verwandelten, bis sie aus ihrer Starre erwachten und beweglicher wurden. Weiblicher. Nachgeholfen wurde weiterhin mit frittierten Teilen vom Huhn, Gemischtem Satz und Marillenbrand.
Nach drei Tagen fühlte ich mich selbst wie ein gemischt gesetztes Marillenhuhn, aber ein revolutionäres.
Das war die Stimmung, in der ich weiter ins anarchistische Tirol fuhr, nach Innsbruck. Innsbruck kenne ich relativ gut, und der Morgen mit dem brennenden Stahl auf den Bronchien ist auch schon ein paar Jahre her, also, ich liebe Innsbruck. Und ich liebe vor allem die Leute, die in Innsbruck für Literatur zuständig sind. Jedes Jahr im April feiern sie da ein Festival, im Zentrum des Festivals steht offiziell die Prosa, aber auch hier steckt ein Geheimnis dahinter, denn das Herz der Innsbrucker Prosa schlägt für Poesie und Tanzen bis morgens um fünf. Einmal haben wir bis morgens um fünf in einer Buchhandlung getanzt, ich erinnere mich noch gut daran, wie ich immer versucht habe, die Bücher vor den taumelnden Bierflaschen zu retten, was mir nicht durchgehend gelungen ist.
Diesmal hab ich wenig getanzt, ich war noch so voller Wien, aber ich saß in einem Leopardenkleid auf einer Bühne, während der Moderator ein strahlend blaues Shirt unter einem knallgelben Hemd trug, und allein für diese weltpolitische Ansage hat es sich gelohnt.
Und die Innsbrucker hab’ ich ja zwei Wochen später schon wieder in Leipzig getroffen, die Stadt war bumsvoll mit Literaturleuten, alle fielen sich um den Hals und lagen sich in den Armen, ein Freund aus Berlin ernannte mich zur Ministerin of Love Bombing und die Kollegin, mit der ich mir eine Flasche Wein teilte, zur amtierenden Kaiserin des Antifaschismus, aber damit war es noch lange nicht genug, denn ich hatte eben diese Tiroler im Schlepptau. Sie waren gerade nachts nicht zu stoppen, obwohl ich immer wieder rief, dass es jetzt wirklich genug sei und wir SOFORT ein Taxi ins Hotel nehmen, verdammt noch mal, aber sie ignorierten mich. Und so gaben wir uns zu dritt einer Karaokemaschine hin, tranken schottischen Whisky und warfen uns brennende Zigaretten in den Mund. Am Ende ist es eben immer anders, als man es sich ursprünglich vorgestellt hat.